Carl Ludwig Hübsch

Carl Ludwig Hübsch

Improvisation - Komposition

von Carl Ludwig Hübsch, Januar 2003 / Juni 2004 

Improvisation: das Ungeplante (unvorhergesehene, improviso) tun
Komposition: von komponere, zusammensetzen

KOMPOSITION – das Bestimmen des Prinzips
Eine vorgefasste Komposition oder auch eine Konzeptimprovisation gewährleistet dem oder den Ideengebern eine je nach Wunsch und technischen Möglichkeiten des Konzertapparates, der Musikinstrumente, der Musiker, des Komponisten und seiner Hilfsmittel weitgehende Kontrolle des Entstehenden: Indem man VORHER bestimmt, was die Parameter des Stückes, seine Gesetzmässigkeit ausmacht, nimmt man eine Zensur, oder weniger belastend ausgedrückt, eine Fokussierung des enstehenden Werkes vor. Nur durch diese MANIFESTIERUNG ist eine Wiederholbarkeit und ein Vergleichen des Prinzips des Beabsichtigten mit dem Entstandenen, also eine Kontrolle möglich.

Dieser Vergleich ist einzig durch die Vorgefasstheit der Komposition möglich. So beabsichtigt ein Komponist zB mit einer Niederschrift, das Zusammengesetzte, das Kompositum, als Idee herstellbar und somit erfahrbar, hörbar zu machen. Sie ist, selbst wenn sie eine niedergeschriebene Improvisation ist, zum Zwecke der Wiederherstellbarkeit niedergeschrieben, aufgenommen, in Zeichen übersetzt, transponiert, und damit haltbar gemacht: Eine Herstellungsanleitung.
Eine Aufführung lässt sich auf ihre Plangetreue untersuchen, indem man die eingetretenen musikalischen oder performativen Ereignisse mit den Vorgaben der Komposition vergleicht.

Zwischen dem Zeitpunkt des Entschlusses, eine Komposition zu schreiben und dem ersten konkreten Gedanken, je nach Kompositionsweise auch danach setzt sich der oder die Komponierende mit grosser Warscheinlichkeit dem spontanen Einfall aus, der natürlich immer das Ergebnis der Lebensumstände und Möglichkeiten, des geistigen und körperlichen Zustandes des Komponierenden und seiner Umwelt ist, als Idee aber entsteht und dann als Plan zur Ausführung gebracht wird.

(Es stellt sich hier die Frage, ob man als Komponist zwischen der unkonkreten Idee, ein Stück zu schreiben und der Manifestation der ersten Gedanken sich dem Unvorhersehbaren aussetzt, also improvisiert. Das würde bedeuten, dass Komposition ohne Improvisation nicht möglich ist. Andererseits folgt auch der Entschluss, ein Konzert Improvisierter Musik zu spielen, letzlich einem Prinzip oder einer Vorgabe, im konsequenten Falle allerdings dem einzigen der Improvisation. Geht man davon aus, dass Improvisation das Entstehenlassen einer Idee aus dem Unvorhergesehenen ist, ensteht jede Musik zumindest im ersten Anfang durch Improvisation. Geht man andererseits davon aus, dass Komponieren zusammensetzen bedeutet, wird auch in der Improvisierten Musik komponiert.)

Die Betrachtung zum Zeitpunkt
Also ensteht eine vorgefasste Komposition und ihr Prinzip zunächst zu einem oder mehreren Zeitpunkten vor der Aufführung, an dem die Regeln, das Prinzip festgelegt wird. Während ihrer Aufführung wird die Komposition gespielt, werden diese Regeln befolgt und durch die Aufführenden den Zuhörenden erfahrbar gemacht. Um komplett zu sein benötigt solch eine Komposition also beide Zeitpunkte, den des Geschaffenwerdens und den der (Be)Nutzung des Geschaffenen, während der Aufführung.

IMPROVISATION – das einzige Prinzip der Improvisierten Musik
Der Begriff der IMPROVISIERTEN MUSIK, einzig dem Prinzip der Improvisation folgend legt nahe, dass diese Musik ausschliesslich durch Improvisation entsteht.
In einem Konzert der ausschliesslich improvisierten Musik werden die Klänge und Ideen der beteiligten Spieler unvorhersehbar im Sinne von unabgesprochen, ohne vorbestimmten Plan, zusammengesetzt, also per Definitionem komponiert. Je nach Haltung des Spielers und nach Ästhetik wird, gesteuert von spontanen Einfällen als Ergebnis der Umstände und Möglichkeiten der Konzertsituation, sowie der geistigen und körperlichen Verfassung der Spieler, Impulsen gefolgt, die zu klanglichen oder performativen Ereignissen führen. Die eingetretenen Ereignisse lassen sich nicht an einem präexistenten Prinzip messen sondern stehen als Performanceereignis für sich selbst.
Während der Improvisation ensteht zwischen den Beteiligten ein aktueller Kommunikationsraum, dessen Regeln Gültigkeit für DIESE Improvisation haben und dessen Regelwerk sich empirisch, nicht präkonzipiert, entsprechend den Ereignissen, definiert oder wandelt. Natürlich wird jeder Spieler nur entsprechend seiner Bedingtheit agieren können, wozu man auch ästhetische Vorlieben zählen könnte. Auch modische Erscheinungen und ästhetische Diskussionen werden den Rahmen des angeblich unvorhergesehenen umreissen. Den Auftrittsort, das Konzertformat kann man als gegeben, als im voraus geplant bezeichnen. Doch das Ziel ist nicht die Umsetzung einer vorher formulierten musikalischen Idee sondern die Umsetzung der in der Situation enstehenden musikalischen Ideen. Das Ende der Improvisation bestimmt gleichzeitig das Ende aller kompositorischen Eingriffsmöglichkeiten für das entstandene Werk. Eine Überprüfung auf “Werkgetreue” ist mangels Herstellungsplan nicht möglich. (eventuelle Aufzeichnungen sind etwas neues, durch Improvisation erstelltes)

IMPROVISATION zur Zeit
Die Improvisation entsteht und wird im selben Zeitpunkt verwirklicht, während ihrer Aufführung. Das Prinzip der Unvorhersehbarkeit selbst ist nur in diesem Moment des Entstehens überprüfbar. Der Umstand, dass eine Musik vor den Ohren der Hörenden, womöglich von mehreren Spielern zugleich zusammengesetzt wird, hat zu dem Begriff “Echtzeitmusik” geführt.

Vielleicht könnte man eine vorgefasste Komposition als ein WERKzeug betrachten, das man an und in dem Moment seiner Verwirklichung, also an der Realität einsetzt und erfahrbar macht. Eine Echtzeitmusik hingegen als ein direktes Abspielen der im Verlauf erlebten Wirklichkeit. So könnte auch ein – glücklicherweise fast unmöglich zu kontrollierendes, und dennoch erspürbares(?) – Kriterium für eine Improvisation das “ImFlussSein” des Spieles und der Spielenden sein.

Ein Konzert solcher Musik gibt dem Hörer die Gelegenheit, das Entstehen eines Regelwerks ohne Gültigkeit zu bertrachten, eines Regelwerks, das sich empirisch entwickelt gemäss den im Konzert eintretenden Ereignissen, Sekundenbruchteil für Sekundenbruchteil zerfällt oder sich neu definiert und mit dem Ende des Stückes prinzipiell seine Gültigkeit verliert. Und es bietet die Gelegenheit, eine Musik zu hören, die einzig für und in diesem Moment gespielt wird, als eine sich entwickelnde Situation zwischen den Hörenden, den Spielenden und dem Umfeld, jenseits der Kontrolle durch und den Vergleich an der Präkonzeption, genau so, wie sie stattfindet, als nicht wiederholbares Ereignis und auch ohne den Plan sie zu wiederholen.
Für die Musiker bedeutet es, sich ganz auf die Situation einzulassen und jederzeit die Bereitschaft zu haben, unwillkürlich entstandene oder seit Jahren mitgeschleppte Geheimpläne zu verwerfen. Das legt den einigermassen entspannenden Gedanken nahe, dass es möglich ist, eine Musik zu hören oder zu spielen, deren entscheidender Inhalt die konkret gelebte Konzertsituation ist und dass diese jenseits eben dieser Situation prinzipiell nicht erfahrbar ist.
Das unbefangene Erleben des Bekannten ist es, was das Bekannte in einem neuen Licht erscheinen und es als neu erfahren lässt. Dann können auch es die alten, wiederkehrenden Geschichten, ein Gang in den Zoo, ein Handballspiel oder vielleicht das Vorüberziehen der Wolken sein, die unsere Wahrnehmung herausfordern und verändern.

Das Akzeptieren der Unveränderlichkeit der enstandenen Konstellationen, des Komponierten oder Entstandenen, und der Verzicht auf das Abgleichen mit einem vorgefassten Prinzip ist wahrscheinlich das selten erreichte Ideal einer aufgeführten Improvisation und ihr spezifischer Reiz. Es ist ein aus dem Leben gegriffenes und zugleich schon wieder dahingegebenes Spiel, das für Hörende und Spielende das Vergnügen der Freude am (Er)leben und Gelebten beschert.