Carl Ludwig Hübsch

Schritt ins Leere

Carl Ludwig Hübsch

Welche Frage muss man stellen, um das Wesentliche über freie Improvisation zu erfahren?

„IST ES MUSIK?”

antwortet Angelika Sheridan, Flötistin und Improvisatorin. Eigentlich eine befriedigende Frage. Ich übersetze die Frage in ein Bild:

„IST DA EIN SEIL? WENN JA, WO IST ES?”

Die “freie” Improvisation gleicht einem Hochseilakt. Ist der Hochseilkünstler frei? Fasziniert uns der Umstand, dass er mit einem kleinen Fehltritt schon einen tödlichen Fehler begehen wird? Schauen wir deshalb gebannt auf Ihn? Oder fasziniert uns die Eleganz oder Virtuosität, mit der er sich auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod bewegt? Erfreuen wir uns daran, dass er riskante Spiele treibt, das scheinbar Unmögliche wagt und sein Leben aufs Spiel setzt?

Das Seil ist die Musik, die als unsichtbare Verbindung zwischen den Musikern und den Zuhörern entsteht. Eine aufgeschriebene Komposition ist eine festgelegte Kür auf dem Seil, die es sichtbar macht. Die Koordinaten, entlang derer die Musik entstehen soll, sind klar, genauso wie die Schritte und Bewegungen der Komposition, die der Musiker aufzuführen hat. 

Seiltänzer sind Profis. Sie setzen natürlich nicht leichtfertig ihr Leben aufs Spiel, denn sie wissen genau, was sie können und was sie nicht können. Sie ziehen uns aber in ihren Bann, indem sie uns spüren lassen, dass sie jederzeit fallen könnten, dass ein kleiner Schritt ins Freie hinein schon das Ende des fröhlichen Staunens bedeuten würde. Im Falle der Musik wird die traumwandlerische Sicherheit des Interpreten bei seiner Kür auf dem schmalen Grat der Musik dann besonders spannend, wenn das Scheitern als Möglichkeit durch den Vortrag hindurch schimmert. 

Jeder Fehltritt bezeichnet das Verlassen der Komposition. Unter Umständen bezeichnet er auch das Verlassen des Seiles, der Musik. Dann kann er „tödlich“ sein.

Auch „freie Improvisation” will das Seil der Musik ertanzen. Allerdings liegen die Koordinaten des Seiles nicht fest. Sie ändern sich, je nach den Bewegungen der Spieler. Diese müssen den Verlauf des Seiles durch ihr Spiel behaupten, ertasten oder vorhersehen.

Daher ist Improvisation die Kunst, mit jedem Schritt in die Leere ein neues Seil sichtbar werden zu lassen, sei die Bewegung noch so absurd. (Mir gefällt der Gedanke, dass man mit Improvisation selbst die Schwerkraft außer Kraft setzen könnte, wenn sich plötzlich herausstellt, dass man kopfüber auf einem Seil balanciert.)

Die geschriebene Komposition definiert sich also im Verlauf der Schritte auf dem Seil. Improvisation aber definiert mit jedem Schritt den Verlauf des Seiles neu. In anderen Worten: Der schreibende Komponist erschafft ein Werk, um Musik zu ermöglichen, der Improvisator musiziert, um ein Werk zu ermöglichen.

Das Seil, also die Musik, entsteht durch die Verbindlichkeit, mit der die Musikerin agiert. Diese fußt auf dem unbedingten Kontakt der Handelnden mit sich selbst und ihrem Umfeld, also den Mitspielern, dem Raum und den Zuhörenden. Im ihrem verbindlichen Spiel entsteht Bedeutung, die gelesen werden will; andernfalls ein loses, beliebiges Nebeneinander. 

Als Hörer hoffen wir, dass die Musikerin uns den tödlichen Absturz erspart. Aber wir hoffen auch, dass sie den Schritt ins Leere wagt, dass sie fällt, kunstvoll abstürzt ─ denn im Moment des Fallens befindet sie sich schon wieder im Balanceakt auf einem neuen Seil, in einer neuen Musik, die sie im Kontakt zu den Mitspielenden und den Zuhörenden hält.

Die Verbindlichkeit, die hier gefragt wäre und die ich als un-bedingt bezeichne, ist weder aktiv noch passiv, sondern der Situation angemessen. Vielleicht dem Zustand des Seiltänzers zu vergleichen, der, mittels einer klitzekleinen Bewegung eine Unkonzentriertheit ausgleichend, agiert, ohne zu wissen, was er tut, ohne sich entschieden zu haben. Dieser Zustand ist tatsächlich frei. Diese Freiheit erhoffe ich auch von einem Interpreten: Jede Musik beinhaltet die Möglichkeit der Freiheit. 

Also: IST ES MUSIK? 

Hier lässt sich eine Anschlussfrage ableiten: 

“Bedarf es bei Improvisierter Musik eines spezifischen Hörens?” 

Denkt man Stockhausens wunderbaren Aufsatz „Die Kunst des Hörens” weiter, bedeutet die Kunst des Hörens von Improvisierter Musik das Nachvollziehen der sich neu verspannenden Bezüge mit allen Sinnen. Zu hören, wie die Musik sich entwickelt, bedeutet bei Improvisierter Musik auch, zu hören, WIE improvisiert wird. Dann vervielfacht sich das Vergnügen. 

Aber auch dieses ist keine spezifische Besonderheit der Improvisation, denn je mehr ich mich mit der Herstellungsweise der seriellen Musik, des Bebop oder der klassischen Musik auseinandersetze, desto mehr lerne ich ihre Details zu schätzen und einzuordnen. Denn schließlich ist auch Improvisation vor alle eine Methode, Klänge zusammenzusetzen, also zu komponieren. Sie hat Stärken und Schwächen wie jede andere Kompositionsmethode und funktioniert am besten, wenn die Beteiligten sich derer bewusst sind. 

Als letzte Instanz gibt der Hörende aber selbst dem Gehörten seine Bedeutung. Er ist der Resonanzkörper. Für ihn ist möglicherweise auch noch das größte Nebeneinanderher, das beliebigste Klangsammelsurium Musik. Und nichts hindert ihn daran, Musik auch am Hauptbahnhof, im Park oder beim Abendessen zu empfinden.