von Carl Ludwig Hübsch, Köln (2022)
In einem Umfeld, in dem Marktdenken und Verwertung fast sämtliche Bereiche unseres gesellschaftlichen Lebens zu durchdringen scheinen, in dem auch Künstler*innen und Musiker*innen am Thema der Selbstvermarktung kaum vorbei kommen, wo eben dieses Selbst-Vermarkten für viele schon ein kaum hinterfragter Selbst-Läufer geworden ist, während die Kunst in der übrig bleibenden Zeit stattfinden muss, möchte ich den Fokus auf die Herstellungsbedingungen der Improvisierten Musik richten, die ja – zumindest ihrer Bezeichnung nach – vor allem das Unerwartete und die Überraschung bereit hält. Auf ein Produkt wie Coca-Cola übertragen würde das bedeuten, dass man nicht weiß, was in der Flasche drin ist: Wasser, Bier oder Limonade – hoffentlich ist es trinkbar. Denkbar schlechte Verkaufsargumente für ein Erfrischungsgetränk!
Wie wird eine Improvisation hergestellt? “Sit, do nothing: This is improvisation.” Dieser Satz stammt aus David Toops Buch Into the Maelstrom¹. Andere Beschreibungen der Improvisationstätigkeit fallen mir ein: “Sound based activity” (Keith Rowe), “Let‘s move some air” (John Russel in Workshops), “stepping into the unknown” (Stephen Nachmanovitch) und andere mehr. Das sind hinsichtlich des „Produktcharakters“ eher magere Angaben. Kommt bei solchem Nicht-Tun auch nichts heraus?
In Interviews mit Kolleg*innen, die im Rahmen der Reihe Soundtrips NRW – look inside ² aufgetreten waren – sei es als reisende Held*innen oder als lokale Stars – habe ich die Musiker*innen, ausgehend von dem oben genannten Toop-Zitat, nach ihren Kurzbeschreibungen der Improvisation gefragt³. Und da der Begriff des „Nichts“ im Zitat so prominent im Raum steht, habe ich auch gleich die Frage gestellt, ob Improvisation vielleicht mit einem fernöstlichen Weg (Dō) vergleichbar wäre, also ob es einen irgendwie gearteten Aspekt der Achtsamkeit gäbe, der die Lebenshaltung eine*r Impro- visator*in nachhaltig und über das eigentliche Spielen hinaus prägte.
Aus der Wikipedia-Definition von Budō: „Das Kanji Dō (道) hat allgemein die Semantik des Wortes „Weg“. […] Wie in vielen japanischen Künsten liegt im Budō (als Synonym für Kampf-Kunst) der Sinn eher im ‚Tun‘ als im Ergebnis (wie etwa im Kampfsport). Es geht um einen Prozess, dessen Ergebnis offen und oft auch nebensächlich ist. Insofern ist die falsche Verwendung des Begriffes ‚Budo-Sport‘ ein Paradoxon und sprachlicher Lapsus. […] Die Begriffe Budō und Bushidō (‚Weg des Kriegers‘) haben auch noch eine übertragene Bedeutung: als Methode zur Selbstverwirklichung und Selbstkontrolle.“4
Worauf bezieht sich David Toops “do nothing”? Der Begriff des Nicht-Tuns ist aus der fernöstlichen Kultur bekannt: Wu Wei! Der Bogenschütze Eugen Herrigel 4 erklärt es in seinem Buch. Der Zen-Schüler stolpert darüber im tiefsten Samadhi und der vollendete Kampfkünstler steht einsam und ohne Feinde auf verlorenem Posten: Nur so kann er gewinnen. Ist also Improvisation ein Dō, chinesisch das Tao, zu deutsch also ein „Weg“?6
Liest man das Buch Free Play von Stephen Nachmanovitch7, kön- nte man durchaus diesen Eindruck bekommen: “When we drop the blinders of our preconceptions we are virtually propelled by every circumstance into the present time and the present mind. This is the state of mind taught and strengthened by improvisation, a state of mind in which the here and now is not a trendy idea but a matter of life and death, upon which we can learn to reliably depend.” („Wenn wir die Scheuklappen unserer Konzepte fallen lassen, wer- den wir von jeder Gegebenheit geradezu in die Jetzt-Zeit und den gegenwärtigen Geist hinein geschleudert. Dies ist der Zustand, den die Improvisation lehrt und verstärkt. Eine Gegenwärtigkeit, in der „Hier und Jetzt“ keine modische Lebens- formel ist, sondern eine Sache von Leben und Tod. Eine Gegenwärtigkeit, auf die wir uns voll und ganz zu verlassen lernen können.“) Es fällt ins Auge, dass Nachmanovitch hier durchaus den Aspekt der Lebensschulung mit einbezieht, die das improvisatorische Tun mit sich führt. („Der Zustand, den Improvisation lehrt und verstärkt.“) Und „Leben und Tod“? Ein Zenmeister hätte das wohl ähnlich formuliert. Im Mondō, in der Begegnung eines Mönchs mit dem Meister oder in der Begegnung zweier Meister geht es immer um Leben und Tod. Ist freie Improvisation also der Klang der einen Hand?
Alle meine Interview-Partner*innen waren zumindest mit dem Begriff der Achtsamkeit in irgendeiner Form vertraut, sei es über das eigene Unterrichten, wo Zen-Texte mit einfließen, wie bei Fred Frith, oder wie bei Magda Mayas, die gerade aktuell die „Verknüpfungen zwischen einer wahrnehmungsbezogenen Mindfulness-Praxis und Improvisation“ untersucht, sei es über die Begegnung mit dem Werk John Cages bei Martin Blume oder über eigene Übungen der Achtsamkeit oder Mediationspraxis. Aber auch die über Jahre angesammelten Erfahrungen aus der Impro- visation selbst scheinen mehr oder weniger automatisch zu einer Auseinandersetzung mit dem Thema Achtsamkeit zu führen.
Jenen geheimnisvollen „leeren Geist“, der im Zen-Klischee gerne ins Spiel gebracht wird, nahmen die Befragten eher nicht für sich in Anspruch, weder in Bezug auf das Spielen selbst noch auf eine angemessene Vorbereitung. Versuche, den eigenen Geist vor dem Spielen zu leeren, erwiesen sich als fruchtlos, auch hinsichtlich der Kontrolle des musikalischen Ergebnisses und begleiteten höchstens Episoden der Improvisator*innen- Vitae: “An empty mind? This seems almost impossible. I’m always thinking, not necessarily about music, it could be wine, politics or social relationships.” (Jérôme Noetinger)
Die ideale Vorbereitung scheint eher zu sein, sich mit dem Kommenden möglichst nicht zu beschäftigen, Zeitung zu lesen, sich zu unterhalten, sich den Gezeiten kommender und gehender Alltagsgegebenheiten auszusetzen, ohne besondere Ausrichtung auf das kommende Spiel: „Ich probiere natürlich, einen leeren Geist zu haben, indem ich gar nicht anfange, mir zu überlegen, wie ich einen leeren Geist kriege, sonst wäre ich komplett im Arsch.“ (Flo Stoffner)
So scheint die einzige verlässliche Voraussetzung für eine Improvisation der Wechsel der Voraussetzungen zu sein.
Auch während des Spiels wechseln sich Zustände der gefühlten Achtsamkeit oder gefühlten Unachtsamkeit ab, unabhängig vom musikalischen Ergebnis: “It can happen that sometimes I am very aware of everything. I can hear something fall on the floor, or if something strange happens, I will feel it. But it is also possible that something happens and I don’t get it. Both are possible.” (Jérôme Noetinger)
Improvisieren erfordert die Bereitschaft, sich der ganzen Situation (Raum, Publikum, Akustik et cetera) wie sie ist, inklusive möglicher eigener Vorhaben und derer etwaiger Mitspieler*innen ergebnisoffen zu stellen. Dass man „Aufmerksamkeit oder Achtsamkeit in dem und auf den Moment hat, dass man ganz im Hier und Jetzt ist“ (Martin Blume), oder, wie es Magda Mayas fomuliert: „im Moment sein – und da würde ich noch hinzufügen: totale Aufmerksamkeit auf alles, auf sich selber, seinen Körper, die Verbindung zum Instrument, zu den Mitspieler*innen und der Umgebung, also dieses hundertprozentige Da-Sein – wäre vielleicht etwas, was ich improvisieren nennen würde, offen sein und im Moment sein.“ Noch am ehesten beschreibt Fred Frith Improvisation als ein Widerspiel von wechselnden, sich möglicherweise unterlaufenden Intentionen der Beteiligten, ähnlich einem Fußballspiel, und betrachtet Absicht durchaus als kreative Bedingung: “There is a constant interplay between people’s idea of what they want to happen and what is actually happening.”
Immer wieder als entscheidend genannt wird die Beziehung zu den Mitspieler*innen, zum Umfeld, also der gesamten Situation inklusive Raum, Publikum, Akustik et cetera. Je mehr sich ein/e Spieler*in beziehungsweise ein Plan oder Wille (Ego) in den Vordergrund drängt, als umso weniger improvisatorisch und befriedigend wird das Spiel beschrieben, als umso weniger reichhaltig werden Interaktion und damit auch die Musik empfunden. Das führt zur Erkenntnis, dass man diese Musik nicht aktiv formen kann. Lotte Anker: “You can never push the music in a certain direction. At least not if it’s done with the intention of dictating or overruling someone.”
Ein ganz anderes Bild für die Improvisationstätigkeit zeichnet Erhard Hirt mit einem Roland Kirk-Zitat: “We’d like to take you on a trip”, und er selbst goutiert im Nachhinein besonders die Momente, „wo ich mich in Regionen bewegt habe, in denen ich noch nie war und wo ich hinterher sogar Schwierigkeiten hätte, das noch mal herzustellen“.
Dass das Gemeinsame nicht nur auf der Bühne entsteht, sondern auch mit dem Publikum, betont Gunda Gottschalk, die gar von einem Ritual spricht. Und dieses Ritual hat wohl mit jener Offenheit zu tun, sich – auf welches spielerische Umfeld auch immer – einzulassen: „Es geht vor allen Dingen um einen Umgang miteinander beim Spielen, der auch im Leben eine Rolle spielt. Und gerne auch um das Zulassen von Chaos, und auch Rausch.“
Während für Gunda Gottschalk hier auch eine Übertragung auf die Lebenshaltung erkennbar ist, betonen die meisten Musiker*innen, im Alltag eher nicht ein „improvisatorisches oder achtsameres“ Leben zu führen als der Rest der Gesellschaft. „Vielleicht improvisieren Ärzt*innen oder der Bundeskanzler
im täglichen Leben mehr als ich“, sagt Angelika Sheridan.
Flo Stoffner: „Man muss sich immer arrangieren, man muss sich immer mit Dingen auseinandersetzen, auf die man nicht vorbereitet ist. Das ist wohl ein bisschen die Hauptbeschäftigung der Menschen.“ Zumindest eine gewisse Übereinstimmung zwischen dem improvisatorisch-musikalischen und dem Alltagsleben stellt Magda Mayas wie folgt fest: „Also, ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass ich auf der Bühne oder wenn ich spiele ein anderer Mensch bin, als wenn ich mir Kaffee koche oder so. […] Aber ich glaube schon, dass es eine Frage von Fokus ist. Man nimmt all das, was man als Musiker*in und Improvisator*in lernt, mit in den Rest des Lebens und in den Alltag.“
Wie man sehen kann, ist der Weg, den die Improvisierenden gehen, immer ein individueller. Er ist untrennbar von der Persönlichkeit und den persönlichen Vorlieben. Gerade diesen Aspekt könnte man allerdings auch dahingehend interpretieren, dass so ein Improvisierer*innen-Leben ein „Weg“ ist, denn auch der Kung-Fu-Meister hat nur seinen eigenen Körper und Geist für die Praxis. Und je länger er trainiert, desto mehr erfährt er – wohl oder übel – über seine eigene Bedingtheit.
Der Bassist Wilbert de Joode sagte mir einmal in sehr konzert- intensiven Zeiten, wie erstaunlich es sei, Tag für Tag, Konzert für Konzert, auf die Bühne zu gehen, ohne zu wissen, wie Improvisation eigentlich geht. Wenn die eigene Bedingtheit sich mit dem Nicht-Wissen oder Nicht-Tun vereint, sich sogar darauf verlässt, so ist das für mich eine Praxis, die viele Elemente eines Dō aufweist, ganz unabhängig, ob diese Einordnung nun für die Praktizierenden eine Rolle spielt oder nicht. Vielleicht wäre es aber umgekehrt durchaus spannend davon auszugehen, dass man in dieser Musik durchaus Meister*innen belauschen kann. Der Kölner Improvisierer Frank Köllges hat dieses Wort sehr gerne für geschätzte Kolleg*innen benutzt.
Werfen wir noch einmal einen Blick auf Wikipedia: „Es geht um einen Prozess, dessen Ergebnis offen und oft auch nebensächlich ist. Insofern ist die falsche Verwendung des Begriffes ‚Budo-Sport‘ ein Paradoxon und sprachlicher Lapsus.“ Könnte man den letzten Satz umformulieren in: „Insofern ist die falsche Verwendung des Begriffes ‚Werk‘ ein Paradoxon und sprachlicher Lapsus.“ Ist das Werk der Improvisation nebensächlich?
Im Gegensatz zu einem Spiel mit Regeln ist Improvisation Spielen ohne Regeln. Im Englischen findet man diesen Unterschied in den Begriffen “game” und “play”, die jeweils unterschiedliche Tätigkeiten beschreiben. Improvisation ist kein Spiel mit einem definierten musikalischen Ziel, wenn man einmal davon absieht, dass wir uns natürlich alle über ein gutes Musikerlebnis freuen und dass wahrscheinlich alle, Musiker*innen wie Zuhörende, ein gutes Konzert erleben möchten.
Oft musizieren natürlich Improvisierende mit dem Ziel, ihre ganz spezifische Musik zu verwirklichen. Sie fühlen sich einer musikalischen Ästhetik verpflichtet, sei sie nun reduziert, oder freejazzig, mit extremen Spieltechniken oder wie auch immer. Das Spiel mancher Musiker*innen kann man hinsichtlich ihrer Klänge geradezu von vornherein ausrechnen. Zu Grunde liegt aber doch immer das Vorhaben, den Moment der Musikentstehung, des gemeinsamen Spielens und die sich in der Situation ergebenden Mög- lichkeiten auf die Spitze zu treiben, selbst wenn man einmal aufgrund der Mitspieler*innen ästhetische Abstriche machen muss. Und so beobachten die improvisierenden Musiker*innen selbst gespannt, auf welche Weise ihr Werk dieses Mal zu Tage tritt. Improvisation lässt sich eben jenseits der improvisatorischen Praxis kaum trainieren.
Kürzlich erlebte ich, wie der Geiger Harald Kimmig einem Konzertbesucher erklärte, Helmut Lachenmann habe eine Bresche in den Dschungel der alltäglichen und nicht-alltäglichen Geräusche geschlagen. Die Tatsache, dass gerade Improvisierende sich gerne auf Helmut Lachenmann beziehen, zeigt, dass auch sie sich für diesen Dschungel interessieren. Denn auch die/der Improvisierende, die/der neue Spieltechniken und Klänge auf ihrem/seinem Instrument findet, schlägt sich hier ihren/seinen Weg durchs Dickicht, forscht und findet. Aber zu Recht tut Lachenmann das Kompendium seiner Verschriftung als Botanik ab. Er weiß, wer seine Herstellungsanleitungen benutzt, wird seine Landschaft nicht finden können, so, wie ein improvisierender Trompeter, der wie Axel Dörner zu klingen versucht, am zentralen Punkt von Axel Dörners Musik vorbei spielt. So ein Dschungel wird nicht urbar gemacht, sondern er muss wieder zuwachsen. Der/die musikalische Forscher *in wird sich mit der gefundenen Stelle vertraut machen, um sie wieder zu vergessen. Er/sie macht die neue Technik zu einem Teil seines/ihres unbewussten Vokabulars – und den Weg ins Dickicht zu seiner Routine.
Und das, was für die instrumentalen Techniken und auch die Hörtechniken (Spielen ist Hören) gilt, das gleiche Dschungelbild, lässt sich auch auf den kommunalen Aspekt der Improvisation anwenden. Auf den Dschungel der zwischenmenschlichen, „zwischenmusikalischen“ Interaktion. Mit ihr zu jonglieren, das ist die besondere Schönheit der Improvisierten Musik. Das “Into the Wild!” kann die Improvisation am besten. Für mich ist die Selbstverständlichkeit, mit der sich Musizierende in diesem Gemeinsamen bewegen, ein Qualitätsaspekt improvisatorischer Meisterschaft.
“The process and the product are one”, sagt Stephen Nachmanovitch. Ist das Produkt der Improvisierten Musik ein Werk? Auch dieses war eine Frage, die ich meinen Interviewpartner*innen stellte, mit dem Zusatz, ob sie sich denn auch als Urheber*innen verstünden. Meine eigene Formel zu dieser Frage lautet: Während ein Komponist/eine Komponistin ein Werk aufschreibt, um Musik zu ermöglichen, musizieren Improvisierende, um ein Werk zu ermöglichen. So fällt das Werk quasi en passant ab, im Vorbeispielen.
Warum sollte Improvisierte Musik kein Werk sein, da sie ja hörbar und absichtsvoll für ein lauschendes Publikum geschaffen wurde – und selbst wenn das Publikum nur die spielenden Musiker*innen selbst wären. Es wäre wenig sinnvoll, solch ein Werk identisch wiederholen zu wollen. Es aber prinzipiell zu wiederholen, also die gleichen Musikerinnen und Musiker wieder miteinander spielen zu lassen, ist durchaus sinnvoll. Nur kommt dabei immer wieder etwas mehr oder weniger anderes heraus, was übrigens auch auf jede neue Aufführung eines notierten Werkes zutrifft. Kaum jemand würde den Sinn einer solchen erneuten Aufführung in Frage stellen. In der Improvisation wird das Wunder der Vergänglichkeit von Musik lediglich auf die Spitze getrieben.
Wenn in der Improvisierten Musik überhaupt etwas als vorhersehbar verkauft und genutzt wird, ist es die individuelle Musiksprache oder -ästhetik der Musikerinnen und Musiker. Und diese Tatsache ist wohl der Grund dafür, dass bestimmte Musiker*innen so erfolgreich und regelmäßig spielen. Der Kunde weiß eben, was er bekommt, wenn Brötzmann draufsteht.
Daher könnte man den Werkbegriff der Improvisierten Musik auf die beteiligten Musiker*innen ausdehnen: Das musikalische Selbst, an dem über Jahre geschliffen, instrumental gearbeitet wurde und wird, die ganz spezifische Wildnis dieser Persönlichkeiten. Dieses Selbst, das sich immer weiter verfeinert. Überhaupt: Das spezifische Hören. Die Fähigkeit, welches Geräusch auch immer musikalisch deuten zu können. Die Fähigkeit der Interaktion, die auf höchstpersönliche Art und Weise und immer wieder neu zu finden ist. Erfahrung. Die individuelle künstlerische Ästhetik, die Entscheidungen fällt, sich abgrenzt und sich doch immer wieder vollkommen auflöst im Prozess der Improvisation. Das Gespür für den richtigen Moment.
Das persönliche, reichhaltige Hintergrundwissen bis hin zur Beherrschung von Stil-Codes oder Traditionen – und damit auch die Möglichkeit der Negierung oder Vermeidung solcher. Diese über Jahre gewachsene Sicherheit, dass der Schritt in das Unbekannte möglich und nötig ist, dass man nicht weiß, wie es geht, und es doch immer wieder tut. Die Kunstfertigkeit, sich im Unbekanntem zu bewegen, dem (noch) unbekannten Selbst zu begegnen. All das klingt in jedem konkreten Werk der Improvisation als Meta-Werk immer mit. Es ist für diesen Prozess entscheidend, dass Hammer und Meister identisch sind. Wenn eine gute Musikerin oder ein guter Musiker spielt, entfaltet sich nicht nur die Musik, sondern eben auch eine Musikpersönlichkeit (was eigentlich für jede Musik zutrifft).
Steve Coleman: “My main thing is that you need to study more of the human part than you do the artifact, because the human is the cause of the artifact. If you study yourself – I mean deep intro- spection and reflection – and then study other people, you’ll learn a lot more about music than you will studying music per se. Because all these things are just a result of the way we’re structured, the way we’re wired.”
„Mein Hauptanliegen ist, dass Du mehr den menschlichen Teil studieren musst als das Artefakt, weil das Menschliche dem Ar- tefakt zugrunde liegt. Wenn Du zunächst Dich selbst studierst – ich spreche von tiefer Introspektion und Reflexion – und dann andere Leute, dann wirst Du eine Menge mehr über die Musik lernen als wenn Du nur Musik an sich studierst. Denn sie ist ja nur eine Folge dessen, wie wir strukturiert, wie wir gestrickt sind.“ 8
Das Werk der Improvisierten Musik wird bereits in seinem Entstehungsprozess „genutzt“, noch bevor es ein Produkt ist. Eigentlich entsteht es überhaupt erst durch seine Nutzung. Das klingt kompliziert. Das Werk eines solchen Schaffensprozesses entsteht und zerfällt im Vorgang des Improvisierens.
Das Versprechen der Musikerinnen und Musiker, die als solche überleben wollen, ist, ihre künstlerische Persönlichkeit improvisierend im Schmiedefeuer der Echtzeit zu verbrennen. Denn die Improvisation braucht niemanden – sie macht sich selbst.
¹ David Toop: Into The Maelstrom: Music, Improvisation and the Dream of Freedom. Bloomsbury Academic, New York 2014, S. 1).
² Soundtrips NRW – look inside präsentiert profilierte Musiker*innen der Improvisations- musik. Die Reihe wird von zehn Kurator*innen in NRW gemeinsam gestaltet. Ziel der Reihe ist, einerseits die Ausdifferenziertheit der improvisierten Musik zu präsentieren und andererseits, durch Ad-hoc-Begegnungen mit Improvisationsmusiker*innen aus NRW, den Austausch in der Szene anzuregen: http://www.soundtrips-nrw.de/
³ Die Interviews erscheinen 2023 im Eigenverlag unter dem Titel Improvisierende im Interview: Soundtrips NRW. In den Interviews wurden Lotte Anker, Martin Blume, Marlies Debacker, Fred Frith, Gunda Gottschalk, Erhard Hirt, Salim Javaid, Magda Mayas, Jérôme Noetinger, Angelika Sheridan, Flo Stoffner und Tizia Zimmermann befragt.
4 https://de.wikipedia.org/wiki/Bud%C5%8D5 Eugen Herrigel: Zen in der Kunst des Bogenschießens, Verlag O.W. Barth, 1948
6 Die deutsche Übersetzung mit dem Wort „Weg“ ist unzureichend, zumal die Bedeutung des Tao schon im chinesischen über den Begriff hinaus geht.
7 Stephen Nachmanovitch: Free Play: Improvisation in Life and Art. Penguin Putnam Inc. New York, 1990, S. 22).
8 https://chicagoreader.com/film/jazz-iconoclast-steve-coleman-on-the-ancient-bedrock-of-hu- man-creativity/
Carl Ludwig Hübsch: Komponist und Musiker
… improvisiert oder komponiert für kleine und große Besetzungen zwischen Improvisierter oder Neuer Musik. … ist als Tubist ein im In- und Ausland gefragter Interpret. … spielt Konzerte Improvisierter Musik, Neuer oder jazzartiger Musik mit bekannten und unbekannten Meistern dieser Genres.
Zahlreiche Radio- und CD-Produktionen, Theatermusikkompositionen, Kon- zertreisen, Stipendien… Erfinder und Mitkurator der Plattform Nicht Dokumentierbarer Ereignisse.
Hübsch forscht heimlich und veröffentlicht in Sachen Improvisation: blog.huebsch.me
Aktuelle Musik (Auswahl): Hübsch|Schubert|Wierbos, Metaculture, Hübsch| Minton
HÜBSCH MARTEL ZOUBEK, Ensemble X, Huebsch / Blonk / Van Bebber, ensemble]h[iatus, Multiple Joy[ce] Orchestra, COUNTER-POLE… www.huebsch.me, blog.huebsch.me, counterpole.de