Carl Ludwig Hübsch

Netzwerk Kompositionen

Warum Komposition für improvisierende Musiker?

Wenn gute Improvisationsmusiker versuchen, einen Schlager oder etwas ähnlich „profanes“ zu spielen, endet das oft bei einer wunderbaren und reichhaltigen Neumontage, die unter Umständen dazu führt, dass das Kuscheltier am Ende zerfetzt, kaputtgeliebt, kaum noch wiederzuerkennen ist (Dompfaff). 

Die Umkehrung dieses “Verjazzens” ist eine meiner Motivationen, nämlich das Einbringen und Einsetzen des Interpreten, um die Grenzen des Geschriebenen zu strapazieren, es auf Beständigkeit zu prüfen in Kombination mit der Lust daran, einen in der Komposition begonnenen Prozess umzudenken, umzudeuten und weiter oder ad absurdum zu  treiben. Somit ist das Werk  eigentlich immer erst mit der Aufführung des Werkes vollendet, kann ihm doch bei derselben noch so einiges widerfahren.

Da das aber eigentlich für jedes Werk gilt ist der Umgang mit Improvisation in meinen Werken nur die konsequente Umsetzung der Erkenntnis, daß sich ein Werk in jeder Aufführung neu zusammensetzt und ganz und gar in den Gesetzen der Zeit verändert. Warum also nicht den Einfluss des Jetzt in der Aufführung maximieren? Solange es zu größerer Schärfe der Interpretation führt…

Ein weiterer Beweggrund ist die Notwendigkeit, auch für improvisierende Musiker bzw. Ensembles, den Materialhorizont ständig zu erweitern, sei es um bisher ungenutztes Material auszudifferenzieren, urbar und damit kommunizierbar zu machen, oder auch, um schlechte Angewohnheiten zu überwinden oder weitere, neuere Organisationsmodelle zu erfahren. (Man könnte auch andersherum argumentieren, manche Improvisierende Musiker müssen immer wieder vor neue Aufgaben gestellt werden) (Solist am Rand)

Natürlich kann man Entwicklung auch in loseren Konzepten oder Absprachen beförden. (Stockhausens aus den 7 Tagen) (Hades Bb) Auch Verbote können für eine Zeit sinnvoll sein, um Entwicklung voranzutreiben. Ich denke da z.B. an die Improvisationsregeln, die Evangelisti für das Ensemble Nuova Consonanza formuliert hatte.

Auch im Bezug der Spieler zur Gesamtgruppe hat sich über die Jahre einiges verändert.

In den frühen Zeiten der sg freien Improvisation war es beispielsweise durchaus üblich, solistisch miteinander zu spielen und es der Musik zu überlassen, sich zusammenzufügen (Freejazz, Globe Unity etc.)

Die Unabhängigkeit/Freiheit der einzelnen Spieler und ihre Fähigkeit, diese spannungsvoll einzusetzen war ein Ideal. 

Mit der Zeit haben sich aber in unterschiedlichen Szenen der Improvisierten Musik z.T. ziemlich restriktive und doch meist unausgesprochene interpersonelle Normen oder Gesetze entwickelt. So ist es meines Erachtens heut für einen Improvisierer-Interpreten eher eine gesuchte Qualität, die gemeinsame Verantwortung sogar noch in kleinsten Details aufzuteilen, so dass man vielleicht am Ende von einem meta-instrumentalem Spiel gesprochen werden kann: Jeder Spieler ist in der Lage, seinen Klang symbiotisch in  den Klang eines anderen hineinzusetzen, so dass schliesslich wie mit einer Stimme gespielt werden kann. Das Autorenkollektiv wird zu einem Metaautoren.

In meinen Kompositionen, die für normal von Improvisierenden Musikern gespielt werden, versuche ich meistens mehrere Aspekte zu kombinieren. Zunächst gibt es natürlich das Material, was MICH interessiert. Das kann mit Improvisation zu tun aber, aber auch, wie zur Zeit, mit Mikrointervallen, mit Tonsystemen u.s.w.. Ich würde sagen, ich nehme, was sich mir entgegenstürzt, mit offenen Armen an und vermeide, zu viel Zeit am Rechner zu verbringen.

Dann bringe ich das Material in eine Form, die der geplanten Aufführung angemessen erscheint. Oft hat man wenig Probezeit. Dafür kann ich z.B. seit gut 5 Jahren regelmässig mit einer grossen Gruppe arbeiten!!!

Da macht es Sinn, Entwicklungsarbeit zu betreiben, ein Stück für das Stück danach zu schreiben. Die Stücke aufeinander aufzubauen. Ich möchte das jetzt an einigen Beispielen erklären.

Fünf Fragmente, Floating Fragment, Floater

Language Types

Komposition als Netz (werk)

Ich sehe den Vorgang der Komposition von Vorgaben wie das Flechten eines Netzes, dessen Knoten Strukturformanten oder auch Kommunikationsschaltstellen sind. Diese stellen ein Raster dar, geben den Rahmen vor – nicht  innerhalb dessen, sondern von dem ausgehend – Zwischenräume gestaltet  werden. Zwischen den Knoten, auf den Beziehungsmaschen, entsteht in der Aufführung Spannung. Zum einen im Bezug auf das Gesamtnetz, das sich hier womöglich neu verschaltet, zum zwischen den Akteuren, die das Netz be- und erspielen.

Der Abstand zwischen den Knoten entspricht dem Grad der Determination des Netzes. Die Akteure spinnen das Netz weiter, all ihre Entscheidungen wirken sich auf die Gesamtform des Netzes – in dieser Aufführung –  aus. Dieser Vorgang verläuft zwar im Bezug auf Zeit immer linear, kann aber im Bezug auf die Form sowohl linear als auch multilinear, organisch, immer ausgehend von der vorher festgelegten Grundstruktur sein. 

Das Netz wächst also entsprechend seiner Verarbeitung/Bespielung, weiter. Da die Entscheidungen der Spieler nicht umkehrbar sind, wächst das Netz in der Zeitachse linear, die zur vorher festgelegten Struktur hinzugekommenen Entscheidungsknoten definieren seine endgültige Form. Jedwedes Ereignis während der Aufführung bekommt – mit Gültigkeit für diese Aufführung – Knotencharakter. Als nicht umkehrbares Ereignis strahlt es auf den weiteren Vorgang der Musik aus und wirkt sich in alle kommenden Ereignissen aus, aber im Sinne der Form auch auf die bereits vergangenen Entscheidungen.

Bei einer neuen Aufführung wird das ursprüngliche Netz wieder neu ausgelegt. Allerdings sind die Spieler jetzt schon um eine Verknüpfungserfahrung reifer. Sieht man Komposition im herkömmlichen Sinn als hierarchische Struktur an, innerhalb derer ein Komponist etwas festlegt, was ein Interpret dann verwirklicht, so liefert im Gegensatz hierzu der Netzwerkgedanke eine Struktur mit sich veränderlichen Hierarchien:

Die Spieler prägen mit ihrem Spiel die endgültige Form der Komposition. Dabei agieren sie in voller Verantwortung und Kenntnis gegenüber dem Vorbereitetem, genauso wie in voller Verantwortung gegenüber dem musikalischen Moment der Aufführung (beinhaltet auch Konzertsituation, Gruppensituation und eigene Tagesform). Der besondere Moment der Aufführung erfordert Entscheidungen, ob das Festgelegte eins zu eins auszuführen, zu erweitern oder zu ändern ist, je nach den im Netz angelegten Möglichkeiten. Die eigene Position gilt es zu betonen oder zurückzunehmen, für Überraschungen zu sorgen oder eine notwendige Wendung herbeizuführen.

Einem herkömmlichen Werk auf der einen Seite steht ein Netz-Werk gegenüber. Rom IST auf allen Wegen (Dies ist keine Aussage über Qualität). Eine traditionell festlegende Komposition stellt in diesem System eine Aneinanderreihung von Ereignissen, Knoten dar, die ausschliesslich linear geschaltet sind und deren Zwischenraum  möglichst gering gehalten ist. Der Interpret ist an die Abfolge und die Abstände der Ereignisknoten gebunden (was ihn gelegentlich, angesichts ständig höher geschraubter Anforderungen und vielfältigster, bis ins kleinste Detail kontrollierter Vorgaben, zu einem Technokratenhamster im Kompositionslaufrad reduziert).

Eine Netzwerk-Komposition dagegen ist multilinear und dynamisch. Sie definiert sich in der Gestaltbarkeit durch den Interpreten. Obwohl möglicherweise komplett durchkomponiert und im traditionellen Sinne spielbar, hält sie die Eingriffsmöglichkeit des Interpreten für einen unverzichtbaren Moment der musikalischen Aufführung.

Das Ringen der Interpreten um die angemessene Form des Stückes, in grösstem Respekt und grösster Verantwortungslosigkeit gleichzeitig, findet unter den existenziellen Bedingungen musikalischen Schaffens UND des musikalischen Vortrages statt. Kompositionsentscheidung meets Lampenfieber.

Was stattfindet, ist Rekomposition. Das Gesetz ist nicht die Schrift, sondern die Aufführung. Und das versteht sich jenseits jeder Beliebigkeit.

Information fliesst so nicht nur vom Komponisten bzw der Komposition über den Interpreten zum Hörer sondern auch in die entgegengesetzte Richtung, hier besonders vom Interpreten zur Komposition.

Die Komposition ist im Idealfall genauso veränderlich, wie unverkennbar. Sie wächst organisch. 

Die Interpreten agieren als Musiker autonom, aber immer im unmittelbaren Bezug auf die Inhalte der Komposition, und die Komposition ist um einen Aspekt reicher, um das Herstellen von Beziehungen nicht nur der zwischen den Tönen, sondern auch zwischen den Spielern und darüber hinaus, zwischen den Spielern und dem Komponisten, zwischen den Spielern und den Hörenden. 

Dies bedeutet auch, dass die Aufgabe des Komponisten darin besteht, ein SINNVOLLES, für diese Art des Spiels geeignetes Werk zu schreiben. 

Zu den Aufgaben des Tonsatzes und der Instrumentenkunde kommt Kenntnis oder Einfühlungsvermögen für die Interpreten und ihrer instrumentalen und improvisatorischen Voraussetzungen.