Carl Ludwig Hübsch

Hinterher ist man schlauer

Über das Material in der freien Improvisation

Prozess, Material und Interaktion

Das Material der freien Improvisation unterliegt prinzipiell keiner Beschränkung. Das, was sie auszeichnet, ist gerade der Umstand, daß alles, was vorkommt, zum „Material” wird. Das Material entsteht in der Interaktion, prozesshaft, empirisch. Wer frei improvisiert, stellt sich allem, was geschieht. 

Die Interaktion, als grundlegendes Element einer freien Improvisation, hat keinen materiellen Charakter. Sie ist nur bedingt über die Klänge zu fassen. Auch andere innere und äussere Umstände prägen eine freie Improvisation, zum Beispiel der Raum, das Publikum, die Befindlichkeiten der Beteiligten und anderes mehr.

So ist dies die Besonderheit der freien Improvisation: Dass sie noch viel weniger als andere Musikformen über das klingende Materials beschrieben werden kann. Und, noch entscheidender, dass die Palette einer freien Improvisation jeweils erst im Nachhinein bestimmt werden kann. Was das Material ist, bestimmt der Prozess.

Klangtypen und Modelle der Interaktion

Seit Jahren entwerfe ich Modelle, um das Material der freien Improvisation zu greifen. So habe ich – ausgehend von Helmut Lachenmanns Klangtypen der Neuen Musik , von Gertrude Meyer-Denkmanns Klangmodellen für Kinder oder von Friedemann Schulz von Thuns Vier-Ohren Modell der gewaltfreien Kommunikation die Klänge der Improvisierten Musik zu fassen versucht – angelehnt an meine eigenen Erfahrungen als Improvisierer und Zuhörer.

Ziel der Modelle ist, das Hören zu verändern, die gängigen Strukturen von Solo und Begleitung, Rhythmus und Melodie durch andere Aspekte zu ergänzen oder gar zu ersetzen, und im anderen Verständnis neue Zugänge zum gemeinsamen Improvisieren und zur improvisierten Musik zu eröffnen. 

In der hier vorliegenden Kompetenzsonne zur Improvisation führe ich Teile der oben genannten Modelle zusammen. Die Grafik erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, das wäre dem Sujet nicht angemessen. Sie fordert vielmehr zur persönlichen Nutzbarmachung und Ergänzung auf.

Die Kompetenzsonne Improvisation

Die Kompetenzsonne soll eine Übersicht über die Improvisation und ihre Umstände abgeben. Sie soll aber auch dabei helfen, Lernbedarfe ein/e Improvisierende/r aufzudecken, seine/ihre Stärken und Lernpotentiale aufzuspüren. Zur praktischen Umsetzung denke man sich zu jedem Begriff auf dem Radius einen vom Zentrum ausgehenden Strahl, der mit einer Skala von Null bis Zehn versehen ist. Auf diesem Strahl trägt der/die Improvisator*in in Selbsteinschätzung seine Kompetenz bezüglich des gewählten Begriffes ein. So wird schnell sichtbar, an welchen Themen man besonderen Arbeitsbedarf hat, woran man als nächstes arbeiten möchte. 

Anhand weiterer Kopien, die nach gewissen Zeitintervallen ausgefüllt werden können, lassen sich Veränderungen dokumentieren. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Selbsteinschätzung ohnehin Schwankungen unterliegt, also sehr subjektiv und stimmungsabhängig sein kann.

Das bedeutet auch, dass keine „objektiv“ erreichbaren Stufen dargestellt oder gar abgefragt werden sollen.  Ziel der Kompetenzsonne ist die Erweiterung der Kompetenz der Praktizierenden und Hörenden ausschließlich auf Basis der Selbsteinschätzung, sowie eine Orientierung zu geben, bezüglich des individuellen „Werkzeugkastens“ improvisationsrelevanter Aspekte.

Die Grafik lässt sich auch auf eine gespielte Improvisation anwenden, die man im Bezug auf ausgewählte Parameter einordnen kann.

Vier Sektoren

Die Sonne ist in vier Sektoren aufgeteilt: Musikalisches Erscheinungsbild,  konkrete improvisatorische Praxis, gruppen- und prozessbezogene Dynamik sowie individuelle Qualitäten des/der Improvisierenden. 

Die linke Seite bezieht sich auf das klingende Material, auf das musikalische Erscheinungsbild und die konkret improvisatorisch-musikalische Praxis. Man könnte sagen, dass sie eher die „hard skills“ des Improvisierens beschreibt. Während der untere linke Sektor sich auf jegliche Musik im Sinne einer Inhaltsbeschreibung anwenden lässt, fokussiert der obere linke schon deutlich stärker auf die Besonderheiten der Improvisierten Musik, indem er die musikalischen Mittel des Zusammenspiels beschreibt.

Die rechte Sonnenhälfte befasst sich mit den „soft skills“ der freien Improvisation, also den interaktiven Prozessen und den Qualitäten der Spieler*innen. 

Während der obere rechte Teil die gruppendynamischen Prozesse und Verhaltensweisen beschreibt, behandelt der untere rechte Teil die individuellen Qualitäten, die für Improvisierende bedeutsam sind. 

Zwei Achsen

Die zwei Achsen der Kompetenzsonne benennen wichtige Spannungsfelder in der freien Improvisierten Musik: Auf der horizontalen Achse finden sich das Er-/finden und das Hören. Ich habe per Pfeil angedeutet, dass sie divergieren. Grund dafür ist, dass konstruierendes Denken das intuitive Hören durchaus behindern kann – und umgekehrt. Beide Parameter sind also voneinander abhängig.

Auf der vertikalen Achse befinden sich oben magische Momente: Das sind Angelpunkte, in denen Überraschendes plötzlich eintritt, als Zeichen für das gemeinsame Hören, für die Synchronität der improvisierenden Geister, ein „glücklicher Zufall“, in dem die Magie des gemeinsamen Spiels als besonderer Moment erlebbar wird. Solche Momente, in denen sich das Zusammenspiel voll und ganz erfüllt, wirken als Kipppunkt in die ganze Musik hinein, oft auch reziprok, indem sie dem Vorangegangenen Stimmigkeit verleihen. 

Unten auf der vertikalen Achse befindet sich die Absichtslosigkeit. Denn auch wenn solch ein magischer Moment wie ein glücklicher Zufall erscheinen mag, so ist eine Voraussetzung für seine Entstehung sicherlich die Absichts-losigkeit der Beteiligten. Auch diese beiden Aspekte hängen also zusammen.

Kompetenz in der freien Improvisation

Untersucht man das Material der Improvisation, kommt man vielleicht in Versuchung, es kontrollieren oder gar beherrschen zu wollen, sich eine Palette von Strategien und Mitteln zurecht zu legen, um für alle Fälle gewappnet zu sein. Doch selbst bei gut ausgeprägten Kompetenzen im Bereich der „hard skills“ sind damit die Voraussetzung für eine gelungene freie Improvisation noch lange nicht gegeben. In der Freiheit gibt es keinen Plan B – und auch keinen Plan A. Die Improvisation macht sich selbst. Darauf gilt es, sich einzulassen.

Das Betrachten der Kompetenzsonne Improvisation macht ausserdem deutlich, dass im Bereich der „soft skills“ auch musikalisch oder instrumental unausgebildete Menschen über einen reichen Schatz von Qualitäten verfügen können, die ihnen – bei Kenntnis und gutem Umgang mit den eigenen Schwächen – volle Augenhöhe mit professionellen Improvisierer*innen ermöglichen. 

Dieser Umstand macht freie Improvisation eigentlich barrierefrei, das ist eine Qualität, die kaum eine andere Musizierform aufweist. 

 

Carl Ludwig Hübsch, August 2024, 

mit Dank an Lothar Fietzek und Kurt Lüscher für hilfreiche Kommentare und Diskussionen