Carl Ludwig Hübsch

For Albert

The Longrun Development of the Universe #6

GLÜCKWUNSCH! 
Sie halten den siebenten* und wahrscheinlich letzten Tonträger des Trios Hübschs Langfristige Entwicklung des Universums in den Händen. 
Seit über zwanzig Jahren entwickeln wir unsere Musik anhand von Improvisation und Kompositionen aus meiner oder auch aus fremden Federn. Zur Musik Misha Mengelbergs zum Beispiel hatten wir einen direkten Zugang: Durch Wolter Wierbos‘ Mitgliedschaft im ICP-Orchestra konnten wir uns unbekümmert und doch nah am Komponisten Mengelberg mit dessen Musik auseinandersetzen (siehe unsere vorherige CD auf jazzwerkstatt: For Misha). 
Ein Gegenstück zum ‚holländischem Humor‘ in der Musik fanden wir in der ‚deutschen Tiefgründigkeit‘ Albert Mangelsdorffs, dem wir diese CD widmen. Informationen aus erster Hand lieferte diesmal Matthias Schubert, hatte er doch von 1986 bis 1990 im Albert Mangelsdorff Quartett (Albert Mangelsdorff, Matthias Schubert, Dieter Ilg und Wolfgang Haffner) bzw. Quintett (gleiche Besetzung plus Wolfgang Dauner) gespielt.
For Albert also. Für mich selbst öffnete Mangelsdorff mit den Trilogue-Aufnahmen (Albert Mangelsdorff, Alphonse Mouzon, Jaco Pastorius) vor Jahren eine Tür in den Jazz.
Doch bei allem Respekt: Die Stücke von Albert Mangelsdorff sind natürlich in unseren Händen nicht vor freudvoller Echtzeitbearbeitung sicher. Sie dienen als Ausgangspunkte für Ausflüge, als geheime doppelte Böden und als Grund, alles stets anders, – verflochten mit unserer eigenen Musik – ausdrücken zu wollen. Und wenn unsere drei improvisatorischen Stimmen das Ganze mit Humor und Leichtigkeit beatmen, ist Albert Mangelsdorff unser vierter Mann.
So beginnt der Bird Pool paradoxerweise mit einer Ameise, die einem Elefanten auf den Zeh tritt. Ansonsten ist er aber kompositorisch ganz dem gefiederten Volk gewidmet. Vogelstimmentranskriptionen oder -verarbeitungen sind Teil dieser ad hoc arrangierten Suite, sei es nun eine Meise am Fenster oder eine Amsel vom Dach, die vor Jahren in Köln zu gesanglicher Höchstform auflief und mich beim Transkribieren zum Schwitzen brachte. Auch ein ganz entfernter CkukCkuk ist mit von der Partie, mit einkomponiertem Dopplereffekt. Dazu kommen Viren aus dem Mengelberg- und aus anderen, früheren Programmen, kleinste Zitate, die vielleicht nur wir drei erkennen, die aber blitzartig eine bestimmte Hintergrundstrahlung auslösen oder uns einfach selbst erfreuen.
Die Abfolge des geschriebenen Materials ergibt sich im Spiel, alles steht zu jedem Zeitpunkt und bedingungslos zur Debatte. Ist das eigentlich schon freie Improvisation? 
Dieses Trio verwirklicht das, was ich mir schon immer gewünscht habe: Jede Musik ist möglich (Ich denke an den Satz „Seid ihr die good old boys?“ aus dem Film Blues Brothers). Die zwanzigjährige Zusammenarbeit des Trios zeigt ihre Früchte. Blindes Einverständnis, für jedermann/jedefrau nachvollziehbar.
Einige Worte zu den weiteren Stücken: Sonntagsgrau ist ein Stück von Albert Mangelsdorff, zu dem der Titel alles hergibt, was es dazu zu schreiben gibt.

Osti-Nato ist eine neue Version eines älteren Stückes, das das Thema Ostinato, Wiederholung thematisiert. Auch Geschichte scheint sich in Variationen zu wiederholen. Der russische Überfall auf die Ukraine ‚inspirierte‘ mich zu dieser Neuauflage meiner Komposition. Sollte Musik überhaupt auf politische Ereignisse reagieren? Und wie? Kann sie sich der aktuellen politischen Lage entziehen? –––
Ach ja, mitten im Stück hat sich Brozziman von Misha Mengelberg als Virus eingeschlichen, was man leider inzwischen als Abschiedsgruß an das deutsche Freejazz-Urgestein Peter Brötzmann (gest. 22.06.2023) interpretieren kann.
Hot Hut ist wiederum von Albert Mangelsdorff. Es sei hier verwiesen auf die wunderbaren Duo–Aufnahmen von Mangelsdorff und Lee Konitz. Im Thema hören Sie ausschließlich Mangelsdorff’sche Noten, während in der Improvisation der Prozess der Aneignung des Stückes durch die Langfristige Entwicklung des Universums alias Hübsch, Schubert, Wierbos sehr plastisch nachzuhören ist.
Eine zweite Version von Ant Steps On An Elephant’s Toe dokumentiert, dass die Zeiten sich ändern und mit ihnen die Noten, die Musiker und die Zuhörerinnen und Zuhörer, denen an dieser Stelle zutiefst gedankt sei. Die Musik entsteht in Ihnen. *sechs Audio-CDs und eine DVD Carl Ludwig Hübsch