von Carl Ludwig Hübsch, 2009
Laut Gehirnforschung ist ein Teil des Frontallappens der Grosshirnrinde (Präfrontaler Cortex) besonders aktiv beim Erlernen NEUER Vorgänge, bei denen man sich noch ganz auf die zu erlernende Sache konzentrieren muß, um keine Fehler zu machen. Mit zunehmender Vertrautheit zum Vorgang aber wird dafür eher das Zentralhirn verwendet und man kann während der Ausübung der einen Sache an andere Dinge denken, träumen oder wütend werden.
Sicherlich ist es für Musiker gut, zu üben, dennoch werden rein auf Übung aufgebaute Virtuosenkabinettstücke eher kritisch und als unkünstlerisch abgetan.
Was ist hierfür der Grund?
Ist sozusagen ein Präfrontal-Cortex Kick notwendig, um einen Vortrag zu Musik werden zu lassen? Oder, etwas weniger aus der Glatteisposition neurologischen Laientums heraus gefragt: Ist es so, dass die Musikalität eines Vortrags vor allem dann stark empfunden wird, wenn der Vortrag für den Zuhörer frisch, im Moment erfunden zu sein scheint? Oder wenn wenigstens die Illusion davon perfekt ist? Viele Konzerte, aber auch Aufnahmen, z.B. die Glenn Goulds Goldbergvariationen, die fast improvisiert zu sein scheinen, sprächen hierfür.
Wenn Musik mit dem besonderen spontanen Kick hoch geschätzt ist, warum führt dann Improvisierte Musik ein Schattendasein in den absoluten Grenzregionen der Kulturindustrie, bleiben Konzerte dieser Musik so oft Geheimtipps, Betroffenentreffs für Sonderlinge? Warum bleiben besonders die Kritiken von Konzerten Improvisierter Musik meist so hilflos an der Oberfläche? Es furzt und tutet, kreischt, haucht und donnert.
Damit aber erschöpft sich die Erkenntnis des wohlmeinenden Schreibers.
Im günstigen Falle sieht er noch den Freejazz wieder auferstehen.
Ist Improvisierte Musik also schwer vermittelbar? Demokratisch abgewählt? Konsumfeindlich? Lässt sie sich schwerer beschreiben als z.B. neue Musik?
Wie lässt sich Ihr Sinn erfassen und wie ihr Gehalt? Vielleicht zunächst eine kleine Vorgartenumzäunung: Was ist Improvisation?
Eines ist klar: Improvisation ist nichts für faule Komponisten (frei nach Feldman). Wer keine Zeit oder Lust hat, Vorgänge auszukomponieren und sich die Mühe nicht machen will, Interpreten, Tonsetzung oder Instrumente zu studieren, soll bitte nicht der Einfachheit halber Improvisation einsetzen.
Er wird genau an der Oberfläche scheitern, die ihm zuvor schon zu langwierig bzw -weilig war.
Improvisation ist auch nur bedingt tauglich als Rettungsring für übeschwache Instrumentalisten, für aktionistische Spontanveranstalter oder Ideenfeuerwerker.
All diese werden in der Szene Improvisierter Musik bei aller Vielfalt und trotz der zu anderen Szenen viel grösseren Solidarität unter den Musikern kaum überleben können. Ein nachhaltiger Einstieg in die Szene Improvisierter Musik ist ein anspruchsvolles Vorhaben und nicht leichter zu verwirklichen als eine feste Stelle in einem guten Orchester zu bekommen. Allerdings ist man als freier Musiker alles andere als unkündbar.
Improvisation ist zunächst einfach eine Methode, Musik aus dem Moment zu komponieren, ggf in einer gemeinsamen Autorenschaft mit anderen Improvisierenden. Die Improvisation, über die ich hier reden möchte, ist kein Trick, um aus dem Stehgreif einen Blues, einen Tango oder Neue Musik so perfekt zu spielen, dass hinterher keiner glauben möchte, dass man “nur” eine Improvisation gehört hat.
Improvisierte Musik ohne Vorgaben, intuitive Musik, Echtzeitmusik, non-idiomatische Improvisation (das Wort wurde in der Szene für eine Weile als heisser Tipp und später als heisse Luft gehandelt), squeaky bonk definiert sich über ihre Herstellungsweise. Wie die unterschiedlichen Bezeichnungen zeigen, gab und gibt es vielfältiger Versuche, den Begriff wirksam ein- und gegen Missverständnisse abzugrenzen.
Bei dieser Musik haben sich in den Jahren durchaus Normen entwickelt, und ich möchte gerne die Improvisierte Musik, die auf ãjeglicheÒ Vorgaben verzichtet, einzig zum Selbstzweck gespielt wird (kein Blues, keine Selbsterfahrung, keine Therapie) hier und heute als zeitgenössische Improvisierte Musik bezeichnen.
Zeitgenössische Improvisierte Musik entsteht autonom, coram publico, will gehört werden, wie jede andere komponierte Musik und ist somit sozial, kommunikativ. Sie wird, wie anders hergestellte Werke auch, mal besser gespielt, mal schlechter, je nach Form der Spieler, nach Wetter, Mondphase und besonders nach Chemie auf der Bühne.
Der gute Improvisierende Musiker bemüht sich um Aktualität seiner Tonsprache und hält sich auf seinem Instrumentarium fit wie die Kollegen in den besten Orchestern. Wahrscheinlich bedient er aber weniger die Klangnorm seines Instrumentes sondern er arbeitet daran, so unverkennbar zu klingen, dass ein Klang seines Instrumentes nicht zu trennen ist von dem Klang des Spielers. In diesem Sinne ist er ein Solist. Aber trotz all diesen Verheißungen sieht man in den “Konzertsälen” Improvisierter Musik nicht die schwarz gekleideten, Kunst und Kompetenz liebenden oberen Zehntausend Konzertbesucher der Neuen Musik.
Ein augenfälliger Unterschied zwischen improvisierten und vorab festgelegten Werken ist natürlich der Umstand, dass die Improvisierte Musik keine Schrift benötigt. Nicht nur aus Sicht des Rezipienten kommt Verschriftung dem menschlichen Bedürfnis nach Struktur und Verbindlichkeit entgegen und das besonders in einer Zeit, in der die Informationen immer schneller und immer oberflächlicher durch unsere Gehirne gejagt werden, wo also Strukturierungs- und Aufbewahrungssysteme Hochkonjunktur haben. (Zumindest im Zentraleuropäischen Raum kann man wohl davon sprechen, dass schriftlichen Überlieferungsformen Verbindlichkeit garantieren) Für den Komponisten birgt schriftliche Komposition im Vergleich zur Improvisation vor allem die Möglichkeit, Material bzw Themen deutlich abgegrenzt zu bearbeiten und in einer Vorgabe zu formulieren. Wird Improvisierte Musik vielleicht für unverbindlicher gehalten?
Bei vorab festgelegter Musik kann man von den geschriebenen Ereigissen zurückschliessen auf die Komposition und das gesamte System des Komponisten, wenn er eines hatte, ermitteln, durchschauen, wie einst Ligeti in seiner fantastischen Analyse von Pierre Boulez` Structure 1a. Transkribiert man aber Improvisierte Musik um sie zu analysieren, wird man immer auf vergleichsweise inkonsistente oder einfache Strukturen der Klangzusammenhänge treffen.
Eine Analyse des musikalischen Sinnes reicht also bei Improvisation nicht aus. Wichtiger als das WAS, das hier in Beziehung tritt, ist nämlich, WIE es in Beziehung tritt. In anderen Worten: Während in der vorab festgelegten Komposition ein Werk zusammengestellt wird, um Musik zu ermöglichen, wird in der Improvisierten Musik musiziert, um ein Werk zu ermöglichen.
Die in Klang ausgedrückten vielfältigsten Kommunikationen der beteiligten Spielerinnen und Spieler, wie sie unterschiedlichste Positionen aufeinander abstimmen und komplexe Vorgänge in der Schwebe halten. Wie Dynamik ermöglicht wird, ein Gefälle erzeugt, genau austariert und wieder eingefangen wird.
Wie Normen gesetzt, gehalten oder ausgehebelt werden. Für dieses Stück. Wie Klangmaterial und Klangeinsatz im Verhältnis stehen.
Wieviel Unterschiedlichkeit die Mittel der Spieler verkraften. Die Durchlässigkeit der Agierenden, z.B. in der Übernahme von Initiative, die “Dichte” des Kontaktes der Spieler untereinander, ihr Umgang mit fluktuierenden Hierachien, die vollste Achtsamkeit und grösste Verantwortungslosigkeit gleichzeitig.
Die Direktheit der Aktionen, die Bereitschaft, auf das Planen zu verzichten und doch unbedingt bei der Sache zu bleiben. Und, vor allem und immer wieder, ob überhaupt und wie die Angel einfach in den Fluss gehalten wird und gewartet. The music comes to you!
All dieses bildet sich in Klang ab und hinterlässt Brandspuren, Signale dieses Schaffensprozesses, die nur für diesen Prozess selbst stehen und nicht darüber hinaus weisen.
Und das Hören / Wahrnehmen solcher Vorgänge will, wie bei jeder aktuellen Musik, gelernt und differenziert werden. Möglicherweise kann man so weit gehen, zu sagen, dass solche Bezüge von einem auf musikalische Tricks oder Strukturen geeichten Hörer sogar schlechter wahrgenommen werden als von einem Nichtfachpublikum. Schliesslich angelt der Fachmann für Musikanalyse in den falschen Gewässern. (Ähnliches beobachte ich beim Theater. Ein Schauspielertheater wird angesichts immer überkandidelter Inszenierungen schliesslich immer für eine schlechte Inszenierung gehalten. Die Menschen, und am meisten Kritiker, sind gar nicht darauf gefasst, das Entspinnen einen Spiels auszuhalten.)
Und wie mit dem Hören muss sich auch die Sprache entwickeln um ein angemessen über improvisierte Musik zu reden oder schreiben und um Qualität auf einer anderen als der “squeaky bonk”-Ebene benennen zu können. Möglicherweise sollte man die Frage nach WAS und WIE auch gleich erweitern um den Aspekt des WER?
Ich möchte abschliessend gerne noch ein kleines Nebenthema anschneiden: Ist Improvisierte Musik Neue Musik?
Im Sinne einer “nichtidiomatischen” Spielhaltung, die Improvisation zu einem anderem als dem Selbstzweck vermeidet, ist das Klischee “Neue Musik” genauso irreführend, wie das Klischee “Blues”.
Dennoch würde ich aber von einer zeitgenössischen Improvisierten Musik erwarten, dass sie aktuelle bzw Neue Musik reflektiert und insofern als Neue Musik funktioniert. Diese Unterscheidung ist besonders dann wichtig, wenn man mit spezialisierten Interpreten, z.B. der Neuen Musik, improvisieren will.