Carl Ludwig Hübsch

Onemindedness

Zu Voraussetzungen für „freie“ Improvisation in großen Gruppen aus der Perspektive der Musikerinnen und Musiker

von Carl Ludwig Hübsch, Köln

Das gleichzeitige Wahrnehmen einer Mehrzahl von Stimmen in der Musik ist begrenzt. Jenseits einer gewissen Vielstimmigkeit fassen wir hörend die Stimmen zu Gruppen zusammen, indem wir die gelieferten Informationen unbewusst oder bewusst auf gleiche Merkmale reduzieren, um sie dann gruppenweise ‚einzufassen’. Angenommen, dass der/die DurchschnittshörerIn beziehungsweise der/die Improvisierende bis zu drei Stimmen differenziert hören kann, greifen schon ab vier gleichzeitig komplex spielenden Stimmen Gruppierungs- oder Ausblendungseffekte[1] [2].

Problemzonen des improvisierenden Orchesters

Ein/e MusikerIn der improvisierten Musik möchte zu Recht in ihrer/seiner speziellen Klanglichkeit und Musikpersönlichkeit wahrgenommen werden. Schließlich hat sie/er womöglich Jahre daran gefeilt, genau diese persönliche Stimme – in welchem Kontext auch immer – schlüssig musikalisch einzusetzen. Wenn aber mehrere MusikerInnen zusammen spielen, reduziert sich die Möglichkeit, formend einzugreifen und wahrgenommen zu werden genauso wie die Chance, die persönliche Ästhetik „ungestört“ zu präsentieren.

Und so wächst mit zunehmender Größe gleichartiger Aktionen das Bedürfnis, eine Gegenfarbe zu setzen. Setzt aber ein Gruppenmitglied eine Gegenfarbe, sinkt die Hemmschwelle für andere SpielerInnen, auch diese (oder gar eine weitere) Gegenfarbe ‚auszuspielen’. Das bedeutet zum Beispiel, dass ein fragiler stehender Klang in einer großen Gruppe sehr gefährdet ist. Denn der erste, der ihn als langweilig empfindet und sich für einen Wechsel entscheidet, entscheidet für alle anderen mit. Umgekehrt dauert es aber bei einem großen polyphonen Stimmengewirr sehr lange, bis sich beispielsweise ein leiser, anhaltender Klang durchsetzt. Nämlich so lange, bis auch der letzte gemerkt hat, dass das Leise nun gerade die Musik des Augenblicks ist.

Eine weitere Schwierigkeit stellt die Hörsituation dar: An den Rändern eines Orchesters hört man ganz anders als in der Mitte, vorne anders als hinten. Das führt leicht einmal dazu, dass zum Beispiel ein „Randspieler“ den spannenden Binnenklang einer Struktur auf der anderen Orchesterseite nicht erkennt und meint, einen Wechsel einleiten zu müssen. Ganz zu schweigen davon, dass sie oder er vielleicht gar kein Interesse an spannenden Binnenklängen hat. Und so steigt mit der Größe der Gruppe die Häufigkeit von sich aufhebenden Positionen, Ergebnisse „mittlerer Temperatur“ sind die Regel. Ein ähnlicher Effekt ist bezüglich der Dauern zu beobachten. Je länger eine Spielfarbe als vorherrschend empfunden wird, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit für einen Wechsel. Da fast immer die oder der Ungeduldigste entscheiden, entstehen gerne – materialbezogen – Abschnitte ähnlicher, mittlerer Länge: Es droht der kleinste gemeinsame Nenner.

Noch ein Gefahrenpotential für die Improvisation in einer großen Gruppe liegt in halbherzigen Statements, also in der Möglichkeit, sich in der Gruppe zu verstecken, zum Beispiel Klänge lieber einzublenden als sie klar zu setzen oder hinzuzufügen, um sie gegebenenfalls auf halber Strecke wieder zurück nehmen zu können. Schließlich geht man ja mit einem „falschen“ Ton einer ganzen Menge Leute auf die Nerven. Daher sollte das Improvisieren einer großen Gruppe auch mit einem besonderen Bemühen um Klarheit und Lesbarkeit einhergehen.

Ein/e improvisierende/r OrchestermusikerIn bezieht ihr/sein Spiel auf die Gesamtklang der Gruppe. Das kann aber schwierig sein, da nicht nur die Instrumentation derartiger Gruppen oft sehr heterogen ist, sondern auch, weil die Klänge komplex und erweiterte Spieltechniken nur schwer den sie erzeugenden SpielerInnen beziehungsweise Instrumenten zuzuordnen sind.

Strategien und Konzepte

Da die Überforderung durch viele Einzelstimmen nicht nur die Zuhörenden, sondern auch die Spielenden betrifft, gibt es in der improvisierten Musik die Strategie, mit zunehmender Gruppengröße um so weniger zu spielen, und so die Möglichkeit der individuell gestalteten Stimme aufrecht zu erhalten. Also eine Maßnahme der Reduktion. Solche Strategien werden gelegentlich in Proben, aber auch in Aufführungen als Konzept verwendet, zum Beispiel durch die Vorgabe, dass maximal drei Instrumente gleichzeitig hörbar sein sollen oder durch Pausenvorgaben, wie nur dann zu spielen, wenn ein bestimmtes anderes Instrument nicht spielt, durch das Bestimmen von Zeitpunkten oder Zeitfenstern, oder durch das gerade bei Kindern sehr wirksame 1€-Prinzip, bei dem man nur einen einzigen Klang zu einem Stück beitragen darf.

Ein weiteres Mittel, klangliche Information in großen Gruppen transparent zu halten, ist das Gruppieren von Stimmen, also chorisch, gleich wie andere zu spielen, um so die klingende Information von vornherein zu beschränken. Typische Beispiele hierfür sind Verabredungen, pointillistisch oder in Klangflächen zu spielen.

Auch ein Dirigat bietet viele Möglichkeiten der Reduktion klanglicher Informationen, um das Hören und damit das Spielen zu erleichtern. Aber ist ein Dirigat überhaupt noch eine echte Großgruppenimprovisation?

Das Dirigat und andere der oben benannten Strategien mögen auf den ersten Blick hilfreich erscheinen, um das Gespür für die Musik beziehungsweise die Gruppe zu schärfen, wenn man aber tatsächlich „frei“ improvisieren will, sind sie vor allem ein Eingriff in einen Prozess, der sich eigentlich von selber regeln muss.[3]

Oft übergehen auch Übungen einen ganz wesentlichen Aspekt: Die Interaktion. Sie ist die Tinte, mit der ein improvisiertes Werk erstellt wird und sie ist vor allem auf eines angewiesen: Auf den richtigen Moment. Entscheidungen in einer Improvisation sind schließlich klingende Reaktionen auf Umstände und Ereignisse, die von anderen (vom Raum, vom Publikum et cetera) freiwillig oder unfreiwillig gesendet werden. Gerade dieser Umstand ist ja das Alleinstellungsmerkmal, die fundamentale Chance der Improvisation, nämlich, dass sie sich organisch aus der Interaktion entwickeln, ohne dass Regeln gesetzt werden müssen. Warum sollte man ausgerechnet darauf verzichten? Ein/e MusikerIn möchte ihre/seine Entscheidung, nun plötzlich ganz leise zu spielen, sich ja im Moment zufallen lassen und nicht schon vorher wissen, was sie/er zu tun hat.

Hauptziel von Übungsvorgaben sollte es daher sein, das Hören zu schärfen anstatt Strategien für Interaktionen einzuüben.

„Gut, dass wir darüber gesprochen haben.“

Um die Achtsamkeit der Musikerinnen zu schärfen, kann ein gemeinsamer Blick auf die dem Material und der Gruppensituation innewohnenden Problemzonen helfen: Es gibt – trotz der scheinbaren Freiheit und der bisweilen postulierten Gleichwertigkeit aller Klänge – Spielweisen, die andere unmöglich machen oder zumindest nivellieren. Bei der Betrachtung dieser Spielweisen geht es in keiner Weise darum, Verbote auszusprechen oder eine ästhetische Vorgabe zu machen. Unterschiedliche Wahrnehmungen sind ein großes Potential in der Improvisation. Es geht vielmehr darum, die Sensibilität für bestimmte Klänge zu schärfen, die mit zunehmender Gruppengröße immer unwahrscheinlicher werden, die sozusagen dem kleinsten gemeinsamen Nenner zum Opfer fallen. Und es ist hilfreich, solche Zusammenhänge mit den Ensemblemitgliedern zu diskutieren, sollten sie auf den ersten Blick auch noch so banal klingen. Ich führe einige im Folgenden auf:

Bezogen auf die gemeinsame Musik macht die Entscheidung „Spielen“ die Möglichkeit „Nicht Spielen“ zunichte. Erst wenn die/der letzte MusikerIn aufgehört hat zu spielen, hat das Stück sein Ende.[4]

Ebenso scheint klar zu sein, dass die Spielweise „laut“ die Spielweise „leise“ dominiert. Die Leisen sind im Zweifelsfall nicht hörbar.[5] Eine Variante dieser Erkenntnis könnte sein: Energetisches Spiel dominiert introspektives Spiel.

Ähnlich wird die Spielentscheidung „lang“ die Spielweise „kurz“ dominieren. Wer zuletzt aufhört, entscheidet, wie lange der einzelne Klang ist, sei es nun ein einzelner Klang oder gar die Länge des ganzen Stückes.

Auch Klangtypen haben Hierarchien. Ein kurzer Klang wird in der Gesamtwahrnehmung der Musik nur dann als solcher wahrgenommen, wenn er durch eine Stille vom nächsten Klang getrennt ist. Wird aber gleichzeitig ein langer Klang gespielt, wird dieser als den kurzen Klang tragend, überdeckend oder darunterliegend wahrgenommen. Das heißt unter dem Strich (sic!) hört man einen langen Klang mit kurzen Elementen.

Ein gerader Klang ohne Binnenfluktuation wird, kombiniert mit einem Bewegungsklang oder fluktuierendem Klang, ausschließlich als Bewegungsklang gelesen werden. Der stehende Klang wird als Farbe in den Bewegungsklang hineininterpretiert.[6]

Wechsel ist stärker als Bleiben. Wer als erster entscheidet, eine statische Situation aufzulösen, entscheidet dies für die ganze Gruppe. Selbst wenn 15 SpielerInnen einen stehenden Klang oder eine Stille weiterführen wollen, reicht eine einzelne Flüsterstimme aus, um Veränderung zu erzwingen und den Fokus auf den beweglichen Anteil zu lenken.

Generell sind fragile Klänge, leise Klänge, Pausen, statische oder monochrome Situationen, alleiniges Erklingen eines einzelnen Instrumentes, kurze Klänge oder differenzierte Bewegungsklänge Beispiele für „gefährdete“ Klänge. Das Spiel in einer großen Gruppe erfordert deshalb eine besondere Achtsamkeit im Bezug auf diese Klänge oder Situationen.

Eine weitere Schwierigkeit stellen solche Texturen oder Bewegungsklänge dar, die in sich selbst so komplex sind, dass sie sich nur schwer mit anderen mischen. Sie sollten mit größter Wachheit bezogen auf Interaktion und Veränderung gespielt werden. Gleiches gilt für homogene Farbklänge. Nicht nur in der großen Gruppe ist Verliebtheit in den eigenen Klang und Trance[7] das Gegenteil von wacher Interaktion.

Erweiterte Spieltechniken wie beispielsweise Rauschen sind ein häufiger Bestandteil der aktuellen Improvisationsmusik. Aber gerade Rauschklänge sind aufgrund ihrer Obertonstruktur räumlich schlechter zu orten als „normale“ Klänge. Sie mischen sich auch nicht unbedingt leicht ineinander. Und oft wissen nicht alle SpielerInnen, welches Instrument, welche/r Spieler/In welche Klänge jenseits des typischen Instrumentalklanges erzeugen kann. Es schadet nicht, sich auch darüber zu verständigen.

Ein besonders wichtiges Anliegen beim Spiel in einer großen Gruppe sollte es sein, diejenigen Aspekte zu bespielen, die eine kleine Gruppe nicht bereit hält. Um diesbezüglich nicht beim – gerne als banal empfundenem – chorischen Spiel stehen zu bleiben, bietet sich noch eine Strategie an, die sehr eng an den Moment geknüpft ist: Das Orchestrieren. Spielen die MusikerInnen so offen, dass ihre Klänge ganz direkt als Anknüpfungspunkte für andere SpielerInnen dienen können, lässt sich ein wunderbares Spiel entfalten, das alle mit einbezieht und bei dem alle IMMER dran sind. Ein Unisono zu spielen heißt dann nicht mehr, das Gleiche zu tun, sondern die Klangfarbe zu gestalten; einen Ton von der anderen Seite des Orchesters zu übernehmen heißt, mit dem Panorama zu spielen, eine Tonfolge kurz zu übernehmen und an einen nächsten abgeben. Diese interaktive Strategie entspricht dem Spielen auf dem ganzen Orchester als Instrument, nicht nur auf seinem eigenem.

Für das Orchestrieren braucht es aber nicht nur diejenigen, in der Lage sind, an einen Klang anzuknüpfen, sondern auch diejenigen, die ihr Spiel offen für Anschlüsse gestalten: Offene, nicht ausformulierte Klänge oder Aktionen, bei denen man erst im nächsten Moment weiß, wer sie wie weiterspielt. Wenn solcherart im Sekundenbruchteil reagiert und die Musik weiter geführt wird, ist das Orchester der Meta-Improvisierer und Multimindedness lässt sich mit Onemindedness paraphrasieren.

Fazit: Der Trend zum kleinsten gemeinsamen Nenner und zu sich aufhebenden Positionen steigt mit zunehmender Größe der Gruppe überproportional. Nur wenn sich alle MusikerInnen dieser Gefahr bewusst sind, können sie in ihrem Spiel der Tendenz zur Nivellierung entgegen treten, ohne sich an ein globales Spielkonzept zu ketten. Strategien und Konzepte sind möglicherweise gut für die Vorbereitung, müssen aber vergessen werden können. Auf jeden Fall sollte man durch Benennen der Problemzonen das Bewusstsein schärfen, ohne daraus Regeln für das Spiel abzuleiten. Es geht darum das Hören zu verändern, nicht das Spielen. Und last but not least: Nicht nur Komponisten, sondern auch improvisierende Orchester dürfen orchestrieren.

Zur Arbeit mit großen Gruppen gibt es auch einen lesenswerten Artikel von Carl Ludwig Hübsch über das Ensemble X, erschienen im ringgespräch über gruppenimprovisation, Thema Raum, Ausgabe LXXV, Berlin April 2012 (Anmerkung der Redaktion).

[1] Ich lege hier meine eigenen Erfahrungswerte zu Grunde in der Hoffnung, dass sie andere teilen. Und ich meine, dass diese Limitierung sowohl für das Publikum als auch für die Spieler gilt.

[2] Ausblenden meint auditive Diskriminierung: „Töne, welche als weniger wichtig eingestuft werden, können weitgehend ausgeblendet oder in den Hintergrund verdrängt werden. Zugleich wird die Wahrnehmung auf jene Töne und Schallquellen konzentriert, die man wirklich zu hören wünscht.“ (www.akustika.ch)

[3] Das Wort „frei“ setze ich in Anführungsstriche, weil es eigentlich durchaus zu diskutieren ist, ob so etwas überhaupt existiert und wer dann von was frei wäre. Hier scheint mir der Begriff aber dennoch ganz brauchbar, da er hier vor allem frei von Verabredungen meint.

[4] Ich übergehe hier Fragen wie „Ist das am Ende ein Stück?“ und „Pausen sind ja auch Musik?“.

[5] Selbstverständlich kann es äußerst wertvoll sein, unhörbar in einer lauten Musik mit zu spielen. Es ist eine Frage der Sensibilität der anderen MusikerInnen, ob sie das in ihr Spiel integrieren. Ebenso kann Nichtspielen natürlich die Wachsamkeit der anderen MusikerInnen schärfen und somit den Prozess beeinflussen. Eigentlich ist es das Ideal, dass alle MusikerInnen auch die Beiträge derjenigen spüren, die gerade nicht zu hören sind. Das fällt dann aus meiner Sicht direkt in das Kapitel ‚Orchestrieren’.

[6] Der Grund dürfte darin liegen, dass der Mensch vor allem auf Veränderungen reagiert, vor allem Veränderung wahrnimmt.

[7] Selbstvergessenheit ist allerdings wunderbar.